Dienstag, 21. Dezember 2010

Zeit der Revolutionen

Kurt Andersen ist mit "Neuland" ein prächtiges Zeitmosaik gelungen, das uns über faszinierende Charaktere das Revolutionsjahr 1848 in Europa und den USA nahe bringt. Das Buch ist so spannend geschrieben, dass es trotz seiner 900 Seiten niemals eine Phase gibt, wo man es liegen lassen möchte. Im Gegenteil: die Schicksale der vier Hauptpersonen werden gekonnt verknüpft - es ist ein Vergnügen ihnen auf ihren Wegen zu folgen, auch wenn sich haarsträubende Dinge abspielen.
Andersen schafft es beeindruckend, den Zeitgeist dieser Jahre so real zu beschreiben als stecke man selbst mitten drin. Charles Darwin, Edgar Allen Poe und zahlreiche andere reale Personen treten wie selbstverständlich am Rande der Handlung auf. Darwin als furzender Gast bei einem Dinner von Benjamin Knowles geschäftstüchtigem Vater, der Benjamin den letzte Impetus gibt, seine Pläne nach Amerika auszuwandern, auch wirklich in die Tat umzusetzen. Poe als Vortragender in New York, der den Journalisten und Fotografen Timothy Skaggs mit seiner schrägen Weltsicht beeindruckt.
Doch es braucht diesen realen Aufputz gar nicht, um die Story in Gang zu halten. Dazu tragen neben Knowles und Skaggs die Geschwister Duff und Lucky Polling bei: Er ein Veteran des Mexico-Krieges, der von seinen siegreichen Truppen desertierte und zu den Gegnern überlief. Seine Schwester Polly eine Prostituierte, die von einer Karriere als Schauspielerin träumt. Ben verliebt sich bei seiner Ankunft in America in Polly und bald zieht es das ganze Quartett in den Westen - verfolgt von einem wahnsinnigen Korsen, der sich für den Sohn Napoleons hält und Ben für den Tod seines Bruders während der Revolutionstage in Paris verantwortlich macht.
Dieser Roman ist ein Meisterwerk für alle Zwecke: Er befriedigt die intellektuelle Neugier ebenso wie das Bedürfnis nach Spannung und romantischer Liebe. Und das – kunstvoll ins Deutsche übersetzt von Birgit Moosmüller - auf höchstem erzählerischen Niveau.

Donnerstag, 5. August 2010

Brauen in Zeiten des Grauens

Der dritte Teil von Günther Thömmes Bierzauberer-Trilogie beginnt in den Anfangsjahren des 30-jährigen Krieges in der Stadt Magdeburg. Hauptfigur ist der junge Braumeister Cord Heinrich Knoll, der trotz der immer schlechter werdenden Versorgungslage seinen Ehrgeiz darin legt, das beste Bier der Stadt zu brauen. Im Mai 1631 rücken die kaiserlichen Truppen auf die Hochburg des Protestantismus vor und nachdem die Hilfe der schwedischen Verbündeten aus bleibt, ereignen sich Tage des Grauens: die siegreichen Katholischen fallen über die Stadt her und beginnen eine Orgie von Morden, Vergewaltigungen und Plünderungen, die später den Ausdruck "Magdeburgisieren" prägen. Dabei verliert Knoll seine Frau und drei Töchter. Ihm gelingt über einen geheimen Stollen mit seinem Sohn Ulrich die Flucht. Unterwegs schließt sich ihm die Soldatenfrau Magdalena an, deren Mann als Söldner der Kaiserlichen auf der Gegenseite kämpfte, aber ebenfalls beim Kampf um Magdeburg starb.
Thömmes erzählt geradlinig und schwungvoll. Der lyrische Schnörksel und eine übertriebene Charakterisierung der Gedankenwelt seiner Charaktere ist seine Sache nicht. Dennoch erschafft er keine Schablonen sondern wirkliche Menschen, die sich entwickeln und auch zu überraschen vermögen. Die Handlung treibt Thömmes dabei stets flott voran, verfängt sich nicht in Nebenlinien oder allzu belehrenden Instruktionen zur Historie des Bierbrauens. Und dennoch erfährt man nebenher eine Menge über den Zeitgeist jener Epoche, die Lebensweise und die Umgangsformen. Man lernt quasi nebenher auf höchst unterhaltsame Art und Weise Geschichte.
Wie Cord und Magdalena einen Neuanfang versuchen - wie sie von elenden Kriegsflüchtlingen zu angesehenen Bürgern der traditionsreichen Bierstadt Bitburg (Thömmes Geburtsstadt) werden - und dann von feindlich gesinnten Fanatikern gnadenlos zerstört und gedemütigt werden, so dass der geradlinige Braumeister darüber sogar zum Mörder wird - all das ist hervorragend erzählt und ein wahrer Lesegenuss.
Im richtigen Leben hat Thömmes mittlerweile seine Wanderjahre aufgegeben und sich mit seiner eigenen "Bierzauberei" in Brunn am Gebirge, nahe Wien, nieder gelassen. Dort braut der Bitburger nun seine obergärigen Spezialitäten: Biere, die einen ebenso würzigen und einzigartigen Charakter haben wie seine historischen Romanhelden.

Montag, 2. August 2010

Reine Wollensstärke

Wollensstärke, das ist so eine Sache. Wenn der Tierarzt kommt, dieses Scheusal, ist es natürlich von Vorteil, wenn er weit weg ist. Oder man zumindest davonlaufen kann. Doch leider finden sie sich jedesmal wieder drin im Pferch, die ganze Schafsherde. Eingesperrt. Und der Tierarzt hat dann keine Mühe, sie zu schikanieren. Indem er sie mit Nadeln sticht, oder ihre Klauen bearbeitet - oder sonstige unangenehme Prozenduren vornimmt.
Was wäre also die Lösung? Nicht in dem Pferch gehen, beispielsweise. Widerstehen. Dazu braucht es aber gewaltige Wollensstärke. Denn wenn Rebecca die Schäferin mit dem köstlichen Kraftfutter kommt und es im Pferch ausstreut, und sich der Duft über die ganze Weide verbreitet - wer wollte da widerstehen?
Einen gibt es: Den seltsamen ungeschorenen Widder, mit seiner unglaublichen Wollensstärke. Der geht einfach nicht rein. Das wäre doch ein Vorbild? Einfach nicht reingehen, wenn Rebecca ihren Köder ausstreut,...
Man taucht in diesem wunderbaren Schafskrimi in eine vollständig kuriose Welt ein - betrachtet die Menschen aus der Schafsperspektive. Und dann wird ermittelt. Sogar mit Hilfe der Ziegen, dieser vollständig vertrottelten stinkenden Tiere, die auch noch stolz auf ihre Verrücktheit sind. Leider werden sie gebraucht, weil sie über ein toll getarntes Loch in ihrem Zaun verfügen und außerdem Französisch verstehen. Diese fürchterliche Sprache in diesem Land, in das sie leider Gottes, aus Irland kommend, geraten sind. Neben ein Schloss, das früher eine Irrenanstalt war. Mit einem Werwolf, einem Garou, der Rehe umbringt und diese zu fürchterlichen Blut-Kunstwerken im Schnee ausbreitet. Ungemütlicher hätte ihr neues Zuhause nicht ausfallen können. Und Rebecca, ihre Schäferin, die sie alle sehr mögen, kapiert leider gar nichts. Weiß nicht in welcher Gefahr sie steckt und lässt sich auch noch mit den völlig falschen Männern ein.

Man gewöhnt sich rasch an diese amüsante Bande von Ermittlern, die meist haarsträubend daneben liegen mit ihrem kriminalistischen Eifer. Doch auch das ist rasend komisch: wenn sie vollständig ohne Gewissensbisse ein Todesopfer verschwinden lassen, weil sie meinen, ihre Schäferin hätte den Mann erschossen. Oder wenn sie einem Lastauto in der Garage eine pädagogische Geschichte erzählen, in der Hoffnung, es würde endlich aufwachen und dann aus Dankbarkeit die ganze Schafsherde fort bringen aus diesem mörderischen Umfeld.

Leonie Swann bezaubert mit ihrem zweiten Schafskrimi. Sie hat das Kunststück geschafft, einen der atemberaubendsten Perspektivenwechsel der Krimiliteratur vorzunehmen und verhilft uns damit zu einem außergewöhnlichen Vergnügen.

Samstag, 15. Mai 2010

Hammer & Tickle


Ich habe soeben ein hervorragendes Geschichtsbuch über Aufstieg und Fall des Kommunismus gelesen. Das Buch ist so gut und spannend geschrieben, dass ich seine 445 Seiten in einer Geschwindigkeit verschlungen habe, wie zuletzt vielleicht "Die Verblendung" von Stieg Larssen. Im Vergleich zum düsteren Krimi des Schweden hatte das Geschichtsbuch allerdings noch einen gewaltigen Vorteil: Die Lektüre war vergnüglich, machmal rührend unterhaltsam und oft so brachial komisch, dass ich losgebrüllt habe vor lachen.
Autor des Buches ist Ben Lewis, 44, ein ehemaliger Kunstgeschichte Student aus Cambridge, der über seine Vorliebe für House-Musik und MTV zum Dokumentarfilm kam. Während der Dreharbeiten zu seinem mehrfach ausgezeichneten Film "Ceaucescu - Prunksucht eines roten Diktators" hatte Lewis das Problem, dass es sehr schwer bis fast unmöglich war, jene Dichter und Künstler, die den unfähigen Despoten einst in ihren Arbeiten verherrlicht hatten, zu einem Interview vor der Kamera zu überreden. Dafür stieß er immer wieder auf Witze aus jener Zeit und traf schließlich Doina, die eine Unzahl davon archiviert hatte. Lewis schienen die Witze "ein Gegengift" nach den unzähligen Propagandafilmen, die er gesichtet hatte - und er hörte Doina mit wachsender Faszination zu.

Doina saß in ihrer winzigen Wohnung und beschwor das alte Rumänien der achtziger Jahre für mich herauf. Sie zählte die bekannte Liste der Versorgungsmängel in den untergehenden kommunistischen Volkswirtschaften auf: Es gab kein Fleisch, kein Make-up, kein Toilettenpapier, keine Tampons, keine Heizung. Dann sagte sie: "Es gab damals den Witz: Was ist in Rumänien kälter als das kalte Wasser? Das warme Wasser." Wir lachten gemeinsam ein ganz besonderes Lachen, das Glucksen über unangenehme Wahrheiten, die allem Galgenhumor zugrunde liegt.

Für Lewis wurden die Witze zur Obsession. Und er verfiel auf jene Idee, die schließlich zum Buch wurde: Die Geschichte des Kommunismus über jene speziellen Witze zu erzählen, die nur in diesem Milieu entstehen konnte. Witze, die in unglaublicher Fruchtbarkeit überall wucherten und jede politische Entscheidung, jede Tragödie und jede Absurdität des realsozialistischen Alltags begleiteten.

Witze aus den Zwanziger Jahren beschreiben das Erstaunen der Menschen nach der Oktoberrevolution und der Umsetzung der neuen Staatsform.

Eine alte Bäuerin geht zum ersten Mal in ihrem Leben in den Moskauer Zoo und sieht dort ein Kamel. "O Gott", sagt sie, "was haben die Bolschewiken nur mit dem armen Pferd gemacht."

Eine Unzahl von Witzen widmen sich Stalins Charakter, seiner Grausamkeit und seinem eigenartigen Humor. Stalin griff selbst die Witze auf, die in der Bevölkerung über ihn kursierten. Wir lernen Stalins esoterischen Landwirtschafts-Minister Trofim Lyssenko kennen, einen ukrainischen Bauern, der mit der Behauptung Aufmerksamkeit erregt hatte, er pflanze im Winter erfolgreich Erbsen an.  Stalin imponierte das und im Volk blühten die Witze über den Größenwahn dieser revolutionären Agrar-Strategie.

Hast du schon gehört, dass Genosse Lyssenko einen Unfall hatte? Er ist beim Petersiliepflücken von der Leiter gefallen.

Sämtliche große Errungenschaften, einschließlich des Radios und der Dampfmaschine, wurden von der kommunistischen Propaganda als Werke einheimischer Genies dargestellt. Das Volk quittierte das mit Hohn.

Wer hat den Rasierapparat entdeckt? - Iwan Petrowitsch Sidorow - im Mülleimer hinter der amerikanischen Botschaft.

In der Zeit des großen Terrors wurden Millionen von Unschuldigen Opfer von Stalins Paranoia. Auch seine engen Mitarbeiter konnten von einem Tag auf den anderen vom Helden zum Konterrevolutionär abstürzen. Einer der bekanntesten führenden Kommunisten, mit dem sich Stalin mehrfach überwarf und dann wieder versöhnte, der 1937 dann aber zu langjähriger Lagerhaft verurteilt wurde, war Karl Radek.

In einem Konzentrationslager in Sibirien unterhalten sich drei Insassen darüber, warum sie da sind. Einer sagt: "Ich bin hier, weil ich behauptet habe, Karl Radek sei ein Konterrevolutionär." Der zweite sagt: "Das ist ja interessant. Ich bin hier, weil ich gesagt habe, er sei kein Konterrevolutionär." Die beiden fragen den dritten. "Und warum bist du hier?" "Ich bin Karl Radek."

Als einen der vielen Höhepunkte des Buches beschreibt Lewis eine Folge der Simpsons, wie sie aussehen würde, wenn sie im Russland der Siebziger Jahre spielen würde. Und es gelingt ihm das Kunststück, eine ganze Rahmenhandlung der "Simpsonowitschs" ausschließlich über eine Aneinanderreihung von zeitgenössischen Witzen zu erzählen. Unter anderem wurde darin Lenins These aufgegriffen, dass erst über die "Lernphase" des Sozialismus der Idealzustand des Kommunismus erreicht werden würde.

"Papa", sagt Bartski, "werden wir Wurst im Kühlschrank haben, wenn wir den Kommunismus erreicht haben?" "Ja", sagt sein Vater, "und jeder wird sein eigenes Flugzeug haben." "Warum?", fragt Bartski. "Na ja", sagt sein Vater, "stell dir vor, wir leben in Moskau und hören, dass es in Wladiwostok Wurst zu kaufen gibt. Dann können wir in unser Flugzeug steigen und hinfliegen. Dann sind wir die Ersten in der Schlange."

Der besondere Reiz an Lewis Arbeit besteht in ihrer autobiografischen Note. Immer wieder tauchen Passagen auf, in der er die Häkeleien zwischen ihm und seiner Freundin einfließen lässt. Ariane ist Malerin, in der DDR aufgewachsen und überzeugte Neo-Kommunistin. Lewis nervt sie mit seinem Faible für Ostblock-Witze und der Strenge seines Urteils über die Dummheit dieser Ideologie. Schließlich zerbricht daran auch ihre Beziehung.
Lewis ist überhaupt genial streng. Er reist durch alle Ostblock-Länder, interviewt unzählige Künstler, Satiriker, Proponenten und Gegner des untergegangenen Regimes. Doch niemand ist vor seinem beißenden Sarkasmus sicher. In wenigen Sätzen charakterisiert er seine Gesprächspartner als Säufer, Trottel oder eitle Gecken. Besonders hart ist sein Urteil über den ehemaligen Polnischen Präsidenten und Chef der Solidarnosc Lech Walesa, den er als strohdummen, von seiner eigenen historischen Bedeutung besoffenen Aparatschik darstellt. Kaum besser kommt der Ex-Staatschef der UdSSR, Michael Gorbatschov weg, der Lewis wochenlang wegen eines Termins hinhält, bis dieser schließlich auf Umwegen erfährt, dass das Interview nur von der Zahlung eines (unverschämt hohen) Honorars abhängt.

Bis zum Schluss quält sich Lewis mit seiner grundlegenden Forschungsfrage, welche Rolle nun der Witz beim Untergang des Kommunismus spielte. Er arbeitet sich daran wütend über sich selbst und viele falsche Fährten bis zur Verzweiflung ab. Sogar bei dieser zermürbenden Suche nach der Wahrheit liefert er aber ein Niveau, das großartig unterhält und den verwelkenden Witzen des untergegangenen Systems in einem Stil folgt, der seinesgleichen sucht.
Auf englisch trägt das Buch den genialen Titel "Hammer & Tickle", auf deutsch ist es kürzlich - nicht weniger treffend - als "Das komische Manifest" im Verlag Blessing erschienen.
Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, betone ich noch einmal, dass es keine unterhaltsamere Art gibt, auf hohem Niveau Geschichte zu lernen - und spreche hiermit eine strenge Kaufempfehlung aus.

Donnerstag, 14. Januar 2010

Asphaltfleisch


"Sie wissen es ja eigentlich, dass sie früher oder später Asphaltfleisch werden. Früher oder später erledigt sie jemand, als wären sie Schlachtvieh. Eine Frage der Zeit. Manchmal nicht einmal von viel Zeit." Der 45-jährige italienische Journalist und Drehbuchautor Giampaolo Simi widmet sich in seinem neuen Krimi der Camorra, den neapolitanischen Familienclans, die als kriminelle Parasiten der Gesellschaft in Politik und Wirtschaft die Fäden ziehen. Simi präsentiert uns diese Typen mit den Augen von "Rosa elettrica", so der italienische Titel des Romans. Die elektrische Rosa ist eine 30-jährige Polizistin, gescheiterte Philosophie-Studentin, die durch eine Reihe eher unerfreulicher Ereignisse bei der Polizei gelandet ist: beispielsweise den Konkurs und psychischen Niedergang ihres Vaters, der ein wenig zu früh auf den Trend zu Bio-Lebensmitteln setzte - und damit finanziellen Schiffbruch erlitt. Erst ganz am Ende dieses unglaublich dichten und berührenden Werks wird Rosa drauf kommen, dass auch diese persönliche Tragödie ihrer Familie unmittelbar mit den Machenschaften der Camorra zu tun hat.
Rosa bekommt den Auftrag, als "Schwester" eines Aussage-willigen Mafiakillers aufzutreten und diesen Typen zu bewachen, bis seine Papiere und seine zweite Existenz im Zeugenschutzprogramm vorbereitet sind. Eine Woche, wird sie beruhigt, soll sie durchhalten, dann ist sie diesen Typ wieder los. Doch es kommt anders.
Dieser Typ, das ist Cociss - ein 18jähriger schwer kokainsüchtiger Mafia-Jungstar, der sich nach seinem Hund benannt hat. Einem Bullterrier-Weibchen, das er im Volksschulalter gemeinsam mit seinem Bruder zum Kampfhund ausgebildet hat. Mit martialischen Methoden. Der Hund hat ihn dabei fast umgebracht und sein Hinterkopf ist von Narben übersät. Doch die Ausbildung war erfolgreich. Sein Hund entwickelte sich zum gefürchteten Champion, bis das Tier eines Tages einen Kampf nur knapp überlebte. Cociss entführte seinen Hund aus der Arena, um ihm das Leben zu retten. Er päppelte ihn langsam wieder auf - und der Bullterrier lernte blind und verrückt wieder einigermaßen zu humpeln. Bis Cociss von seinem unmittelbaren Vorgesetzten im Regime der Camorra seine erste Pistole geschenkt bekam. Und als Zeichen seiner Unterordnung und Disziplin den Hund erschießen sollte. Cociss bestand die Aufnahmeprüfung.
Dieses psychisch schwer missbrauchte mörderische Kind, dieser Analphabet der wenige Kilometer neben dem Meer wohnt, es aber noch nie gesehen hat - weil seine Arbeit als lokaler Drogenboss ständige Kontrolle und Anwesenheit erforderte – dieser überhebliche unberechenbare Bastard weiht Rosa in einige seiner intimen Geheimnisse ein. Aus Berechnung, aus Zuneigung - das bleibt unklar. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Beziehung, die zwischen den Polen extremer Abscheu und einer abartigen Form gegenseitiger Anziehung schwankt. Es ist keine lineare Entwicklung, sondern ein heftiger Schleuderkurs, der Rosa und Cociss einaher näher bringt und - über eine dramatische Flucht nach Deutschland und schließlich nach Schottland - treibt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt in einem Roman eine derart spannende Beziehung zweier so kontroverser Charaktere erlebt habe wie hier zwischen der Polizistin und dem jungen Mafioso.
Giampaolo Simi hat mit diesem Roman auch im deutschen Sprachraum seinen Ruf als einer der interessantesten italienischen Krimi-Autoren gefestigt. Er versteht die Kunst der Nuancierung ebenso wie den dramatischen Suspense. Und er gewährt Einblicke in die Persönlichkeitsstrukturen und das Beziehungsgeflecht zwischen Polizei und Mafia, die über die bekannten Klischees weit hinaus gehen.
Am Ende sitzt Rosa mit dem Transvestiten Joséphine im Morgengrauen. Sie weint nicht. Sie weint nie mehr, nimmt sie sich vor. Aus Angst, dass sich mit den Tränen auch das Gesicht des untergetauchten Mafia-Bosses auflösen könnte, der aus der Anonymität die Fäden zieht und für all den Schmerz verantwortlich ist.
"Ich werde warten", endet der Roman. "Ich werde warten, bis sich der Schmerz in Mut verwandelt."
Besser kann man auf eine (hoffentlich bald erscheinende) Fortsetzung nicht einstimmen!

Giampaolo Simi "Camorrista" (Übersetzer: Ulrich Hartmann), Verlag C. Bertelsmann 2009, 19,95€

Mittwoch, 13. Januar 2010

Der passive Maulheld


Mit 56 Jahren hat Daniel Depp nun mit "Stadt der Verlierer" seinen ersten Roman veröffentlicht. Er ist "John" gewidmet, seinem zehn Jahre jüngeren Halbbruder.
In Interviews erzählt Daniel, wie nahe die Beziehung zu seinem  Bruder ist, dass er das Buch zum Großteil in Johnnys Haus in Frankreich schrieb und dass er sogar überlegte, es unter einem Pseudonym zu veröffentlichen, weil sonst jeder denken würde, dass der Hollywood Superstar Bobby Dye - die umschwärmte und bedrohte Hauptfigur von "Stadt der Verlierer" eigentlich sein Bruder wäre. Doch John sagte ihm, er solle sich darum nicht kümmern. – Zurecht.
Niemand würde in diesem blassen Charakter, der stets zwischen Aufbegehren und Anpassung schwankt - dann aber doch verlässlich nach der Pfeife seines Produzenten, seiner Agentin oder seiner Supermodel-Freundin tanzt - Johnny Depp vermuten.
Doch Daniel kennt natürlich die Szenerie genau, beschreibt die verschiedenen Charakter-Typen die das Filmbiz bevölkern mit sarkastischer Ironie und lässt in den Dialogen sein komisches Talent aufblitzen. Und so entwickelt sich die Handlung irgendwo zwischen "Pulp Fiction" und "Get Shorty" - was ja an sich für vergnügliche Unterhaltung stünde.
Bloß leider hat Daniel Depp mit seiner Hauptfigur, dem Privatdetektiv David Spandau, einen Held geschaffen, der - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - nie in Fahrt kommt. Die meiste Zeit hängt er als eine Art Leibwächter von Bobby Dye in dessen Umgebung rum und lässt sich von allen möglichen Leuten beleidigen. Mindestens zehn Mal betont er, dass er es satt hat, dauernd beschimpft zu werden. Doch er steht eben unpassend im Weg rum. Und das fällt auch den anderen Figuren zunehmend auf.
Dies heißt nun nicht, dass in diesem Roman nichts abgeht. Doch Depp hat einen wirklich außergewöhnlichen Hang zur demokratischen Aufteilung der Heldenrollen - und bald gibt es eine ganze Reihe von Typen, welche Spandau den Rang ablaufen. Allen voran dessen alter Freund Terry, ein nur 1,61 Meter kleiner irischer Womanizer, der seine mangelnde Körpergröße notfalls mit einem Mix aller möglicher Kampfsportarten ausgleicht. Terry findet "diesmal wirklich" die Liebe seines Lebens, ebenso wie der schmierige Mafioso und Clubbesitzer Richie Stella oder dessen gestörter Handlanger Potts, zwei weitere Nebendarsteller, die Spandau an Originalität überstrahlen. Manchmal sind diese Lebenslieben auch ident. Etwa wenn Allison, die attraktive Geschäftsführerin von Stellas Club sowohl Richie als auch Terry schöne Augen macht. Mit fatalen Konsequenzen.
Depp kümmert sich um seine Helden, manchmal wird in der Schilderung der Herkunft etwas weit ausgeholt, aber nie so, dass die Handlung darunter leidet. Im Gegenteil: Der Schluss bietet ein dramatisches Finale, das nur einen Nachteil hat: Spandau hat kaum Anteil daran. Mittlerweile hat man sich an die anderen Darsteller aber so gewöhnt, dass dies nicht mehr stört.
Es heißt, Daniel Depp schreibt derzeit an seinem zweiten David Spandau - Krimi. Vielleicht  gönnt er seiner Hauptfigur ja darin ein paar stärkere Momente. Hier gleicht Spandau einer dauernd entsicherten Granate - die nie explodiert.  Ich bin dennoch gespannt auf die Fortsetzung.

Daniel Depp "Stadt der Verlierer" (Übersetzerin: Regina Rawlinson), Verlag C. Bertelsmann, 2009, 19,95 €

Samstag, 9. Januar 2010

Rasante Freibeuter-Action


Für mich war dieses Buch, das nach Michael Crichtons Tod auf dessen Computer gefunden wurde, eigenartigerweise das erste dieses Autors. Viele Male hatte ich mir schon vorgenommen, endlich mal eine Kostprobe der gerühmten Spannungsdramaturgie zu nehmen. Ein Freund schwärmte mir vor, dass es - etwa für einen Flug in die USA - überhaupt keine bessere Literatur gäbe, als eben einen Crichton. Zudem habe ich hier und da auch interessante Zitate aus Interviews gelesen, die mich neugierig auf diesen Schriftsteller - mit Ursprungsberuf Arzt - machten.

Eine Piratengeschichte zu lesen, klang für mich zunächst völlig absurd: Freibeuter in der Karibik, spanische Schiffe überfallen, Goldschätze stehlen. Hier scheint beinahe jede Wendung schon genommen - bis hin zur komisch-absurden Persiflage, wie im "Fluch der Karibik".
Aber irgendwie hat mich gerade dieses - bereits von hundert Seiten beleuchtete - Thema gelockt: was würde ein Könner wie Crichton hier beitragen, wie geht er das Thema an, wie zeichnet er die Figuren?

Es beginnt wie bei Ocean's Eleven mit der Sammlung eines wirklich hervorragend skurrilen Rattenpacks von Abenteurern, mit denen die Hauptfigur Captain Charles Hunter einen spektakulären Raubzug auf eine spanische Festung plant. Jedes Mitglied im Team hat ein paar Macken, aber auch spezielle Fähigkeiten, die später wichtig werden. Crichton skizziert die Figuren mit schnellen Strichen. Sie werden damit nicht wirklich "echt" - aber vorstellbar. Sie stürzen sich ins Abenteuer - und hier folgt das, was mich bei diesem Roman am meisten begeistert hat: Die Handlung ist nie vorhersehbar, bietet abenteuerliche Wendungen, wenn man diese nicht erwartet - und folgt strikt dem Plan, wenn man mit heftigen Zwischenfällen rechnet. Einige der Einfälle sind wahrhaft grandios. Dazu sind die Kapitel kurz und knapp, es gibt kaum Schnörkel oder Ausschweifungen.

Ich hatte das Buch in drei Tagen durch, las es mit Freude und großer Spannung. Abgesehen vielleicht vom Angriff eines See-Ungeheuers. Damit hat Crichton nur ein einziges Mal den Handlungsbogen zur Kitschgrenze überspannt. Angeblich hat sich ja Spielberg bereits die Filmrechte an den "Pirate Latitudes" gesichert - und ich habe mir eingeredet, dass diese Szene wohl auf einer Anregung dieses großen Kindskopfes beruht.

Von diesem Blödsinn abgesehen ist Crichtons letztes Buch aber ein ganz tolles makelloses Werk der unkomplizierten Spannungslektüre. Es wäre ein äußerst kurzweiliger Übersee-Flug geworden.

Michael Crichton "Gold - Pirate Latitudes", (Übersetzer: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann), Karl Blessing Verlag, 2009, 19,95 €

Betrüger im Paradies



Der südafrikanische Autor Damon Galgut erschafft in diesem Roman Charaktere, die völlig eigenständig sind und keinerlei Klischee entsprechen. Dasselbe gilt für die Handlung: Sie hört sich so eigenartig an, dass man darin kaum Spannung vermutet. Doch das täuscht. Man kann das Buch kaum aus der Hand legen.

Adam, ein Aussteiger in der Midlife-Crises, der Job und Haus verloren hat, erinnert sich an seinen Jugendtraum, Gedichte zu schreiben. Sein Bruder bietet ihm ein Haus in einer abgelegenen Gegend an, das er einst gekauft und gleich wieder vergessen hat.
Dort lebt Adam untätig in den Tag hinein, verliert sich immer mehr in Tagträumen, die rapide in Wahnsinn und Depression führen. Er ist zu nichts fähig. Weder kann er das Unkraut entfernen, das seinen Garten überwuchert - noch findet er die ersehnte lyrische Inspiration. Seinem fleißigen Nachbarn Blom weicht er aus. Sogar als dieser Adams Wasserpumpe repariert, verachtet er ihn weiter als ungebildetes Landei. Bloms Annäherungsversuche sind wiederum höchst unbeholfen. Ab und zu kommt er halb betrunken mit billigem Brandy zu Adam, der ihm angeekelt ausweicht.

Schließlich begegnet Adam zufällig seinem ehemaligen Mitschüler Canning, einem zwiespältigen Menschen, der von seinem Vater ein regelrechtes Paradies geerbt hat: Gondwana. Canning, hasste seinen Vater inbrünstig - und nach und nach stellt sich heraus, dass Canning vor allem eine große Idee antreibt: sich über den Tod hinaus an seinem Vater zu rächen. Sogar die Wahl der schwarzen Ex-Prostitutierten "Baby" als neue Ehefrau sieht Canning als eine Abrechnung an dem weißen Jäger und Patriarchen.

Galguts Figuren sind alles andere als sympathisch. Adam, der in allen seinen Lebenszielen und Gefühlen kalt und egoistisch bleibt. Der rätselhafte Blom, der sich absolut sicher ist, dass Adam ihn eines Tages töten wird. Canning mit seinen schizophrenen Schwankungen von innigster Zuneigung zu sofortigem abgrundtief zynischem Hass. Und schließlich Baby, die in Ihrem Leben vor allem eines gelernt hat: dass Ihre makellose Schönheit Kapital ist, das besser von ihr selbst, als von anderen benutzt wird, um damit Ziele zu erreichen. So betrügt sie Canning skrupellos - auch mit Adam, der über der Sehnsucht nach Sex plötzlich wieder zum Dichter wird.

Das Buch entwickelt eine enorm dichte Atmosphäre. Galgut führt tief in das "neue Südafrika", mit seinen turbokapitalisitischen Boom-Städten, dem Elend in den rasch herausgestampften Slums mit Namen wie "Nuwe Hoop" - und den allzeit korruptionsbereiten Politikern. Und er zeigt ein faszinierendes Beziehungsgeflecht, das aus einer Vergangenheit wuchert, die von allen Beteiligten verdrängt und gefürchtet wird. Ein hervorragender Roman.


Damon Galgut "Der Betrüger" (Übersetzer: Thomas Mohr), Verlag Manhattan 2009, 19,95 €

Freitag, 8. Januar 2010

Beat räumt auf




Eine faszinierende Spannung entwickelt dieser Roman von Franz Dobler, ich habe stilistisch seit langem nichts Besseres gelesen. Beat heißt nicht nur die Hauptfigur, auch der Rhythmus der Geschichte hat einen dampfenden dröhnenden Beat. Das beginnt bereits mit dem ersten Satz: "Austickender Mann in der Straßenbahn". Eine Episode, die jeder kennt: ein Spinner schreit herum - ohne erkennbaren Grund. Ein frustrierter Typ knapp vor dem Amoklauf.
Auch Beat selbst führt ein Leben nahe am psychischen und existenziellen Abgrund - mit drei Jobs und wenig Zukunft. Bis er durch eine Zufallsbekanntschaft auf der Straße in eine humorige, spannende und abartige Love- & Crimestory schlittert.
Ich habe letztes Jahr Doblers informative und detailverliebte Cash-Biografie gelesen. Hier in der Romanform kann er nun endlich seinen lyrischen Freestyle pflegen. Und der ist vom Feinsten! Ich habe dieses Buch gefressen, wie schon ewig keines mehr seit dem "Herr Lehmann". Wie Sven Regeners Bestseller geht auch "aufräumen" fast über vor irrwitzigen Charakteren und Dialogen, die eine sofortiger Verfilmung verlangen. Dazu noch eine perfekte Dramaturgie, die mit jeder Seite den Lese-Sog erhöht.
Unbedingte Kaufempfehlung!

Franz Dobler "Aufräumen", Originalausabe Verlag Kunstmann 2008, 17,90 €, Taschenbuch Bvt 2010, 8,95 €

Anarchie im Kinderfilm




Ich habe mir den Film gemeinsam mit meinen Kindern angesehen und dachte ich träume. Dies ist mit Abstand der amoralischste Kinderfilm, der mir jemals untergekommen ist.
Da geht ein kleiner Bruder verloren, und alle sind irgendwie erleichtert. Ein anderes Kind stirbt, doch es wird kein Wort darüber verloren. Das Mädchen wechselt ihre Verehrer wie die Hemden und als alle es auf die Pistole abgesehen haben und sie unter Lebensgefahr beschaffen wollen, platzt plötzlich die Blase eines Kaugummis: und schon ist dies das begehrenswerte neue Ziel.
Es liegt eine unglaubliche Anarchie über diesem rumänischen Film, eine unglaubliche Lässigkeit und die beinahe übermenschliche Leistung des Regisseurs, diesen Kindern die pure Lust am Spiel durchgehen zu lassen. Bis in den Irrsinn.

Ein absolutes Meisterwerk!


"Thalassa, Thalassa - Rückkehr zum Meer", Regie: Bogdan Dumitrescu, Rumänien 1995, 83 Min.

Ein erstaunlicher Krimi aus der Nazizeit


Wie gings zu im letzten Weltkriegswinter. In der völlig zerstörten Stadt Berlin, wo täglich die Tommys mit ihren Bombern kamen? Wie lebten die Menschen unter derartigen Umständen. Was machten die Umstände aus den Menschen?
Eine schöne Aussicht haben Sie hier, sagt der Gestapo Mann Kalterer zu einem 70jährigen Sozi, den er in dessen Wohnung verhört. "Ja," sagt der alte Mann, "alle beneiden mich um diese Aussicht. Und das beste ist: Sie ändert sich fast täglich." Der Gestapo Mann Kalterer schlägt ihm danach den Kopf zweimal mit voller Wucht auf die Tischplatte. Routiniert, so wie er es in seiner Ausbildung bei renitenten Verdächtigen gelernt hat.
Haas, der Mann, den er jagt, marodiert einstweilen in einem Blutrausch durch die Stadt. Er hat alles verloren, was ihn aufrecht hielt und auf der Spurensuche nach dem Untergang seiner Familie kommt alles schlimmer und schlimmer.
Kalterer, der karrieregeile Gestapo Mann, hat noch Hoffnung. Hoffnung seine Frau wieder zu gewinnen. Seine Frau Merit, die die Nazis hasst und sich vor ihm ekelt.
Kalterer und Haas sind die beiden Haupt-Charaktere in diesem fantastischen Sittenbild, das seinen Detailreichtum wohl den Hauptberufen der beiden (!) Autoren verdankt. Sie sind Historiker und sie sind noch etwas: Begnadete Geschichtenerzähler, die es verstehen den Leser in einen Sog von Spannung zu ziehen, der gegen Ende hin immer noch mehr zunimmt. Ein unglaubliches Debüt!!

Richard Birkefeld, Göran Hachmeister "Wer übrig bleibt, hat recht" Kriminalroman, 7,95 €