Dienstag, 2. August 2011

Ghetto mit Geistern

Das Viertel um den South Presa Strip im Süden von San Antonio/Texas ist das vergammelte abgefuckte Revier der Huren, Stricher, Diebe und Säufer. Und mitten drin vegetiert Doc, ein heroinsüchtiger ehemaliger Arzt, der sich mit Abtreibungen, sowie der Versorgung von Schuss- und Stichwunden das Geld für seine täglichen Rationen verdient. Immerhin muss er nicht auf den Strich gehen oder stehlen und rauben, so wie die sonstigen Kunden des Dealers Manny, der jeden Tag verlässlich hinten auf dem Parkplatz beim Schnapsladen steht und seine Ballone vertickt.
Wenn Doc ordentlich zugedröhnt ist, erscheint ihm der Geist der früh verstorbenen Musiklegende Hank Williams, mit dem Doc früher zu Lebzeiten als dessen Leibarzt und Saufkumpan von Konzert zu Konzert gezogen ist. Nun, wo er tot ist, umlauert Hank seinen Freund missmutig und eifersüchtig und man hat den Eindruck, dass er es nicht abwarten kann, bis Doc endlich seinen rußgeschwärzten Junkie-Löffel abgibt.

Bei Steve Earle, dem großartigen Countrymusiker, der hier seinen ersten Roman vorlegt, wird dieses Ghetto rasch zum Idyll, bevölkert von Gestalten, die fast alle irgendwo einen guten Kern haben. Auch wenn sie sich mal gegenseitig mit dem Messer an die Gurgel gehen oder den Schnapsladen hochnehmen. Das ist der Suff, you know. Am nächsten Tag isses wieder gut. Und wenn nicht alles gut geht, weil der alte Besitzer des Schnapsladens den Räubern ziemlich gut hinterher geschossen hat, dann ist immer noch Doc da, der im Hinterzimmer ordiniert und tut was er eben kann.

Ihn treibt keine besondere Menschenliebe, aber er hat sich an sein Milieu und dessen Bewohner gewöhnt. Da ist Marge, seine lesbische Vermieterin in der Pension Yellow Rose, die keine Schwarzen ins Haus lässt und ständig auf ihre Freundin eifersüchtig ist. Big Manny sein mexikanischer Dealer, mit dem er nach dem Dienst in Teresas Kneipe Domino spielt. Der korrupte Cop, die süchtigen Nutten und eben Hank der Geist. Alle diese Leute haben irgendwann ein paar falsche Entscheidungen getroffen. Entscheidungen, die sie längst bereuen, aber es hilft nichts. Es führt kein Weg zurück. Wenn nicht ein Wunder geschieht.
In Steve Earles Buch hört das Wunder auf den Namen Graciela. Sie ist eine junge Mexikanerin, die bei Doc nach einer Abtreibung fast verblutet und dann "hängen bleibt". Und mit dieser zierlichen jungen Frau, die von ihrem Großvater die Gabe des Heilens geerbt hat, ändert sich alles.

Sterblichkeit, sagt Earle im Interview, sei für ihn das große Thema dieses Romans gewesen, auch dadurch beeinflusst, dass während der Schreibarbeiten sein Vater verstorben ist. Das Buch ist keine große außergewöhnliche Literatur, aber man lässt sich gerne auf diesen Erzählton ein. Und obwohl im Fortgang der Story auch noch richtige Bösewichter auftauchen und alles auf einen fulminanten Showdown zusteuert, ist der bestimmende Sound des Romans ein versöhnlicher ruhiger Bass.

Freitag, 24. Juni 2011

Die Welt aus Kakerlakensicht

Ein Buch wie dieses habe ich noch nie gelesen. Gestern spät abend habe ich es weg gelegt und ich bin noch immer platt: aufgewühlt, begeistert, verstört.
Hauptfigur und Ich-Erzähler ist ein nach Kanada emigrierter Araber. Er vegetiert mehr als er lebt, hat ständig Geldprobleme, leidet an Hunger, an Alpträumen und Depressionen. Eben hat er einen missglückten Selbstmord-Versuch hinter sich und wurde zu einer Therapie verpflichtet. Seine Besuche bei der Therapeutin Genevieve bilden den roten Faden der Erzählung. Der zweite ist seine immer drastischer werdende Identifikation mit dem Wesen und Charakter einer Kakerlake. Er provoziert seine Umgebung ständig, stielt ohne Hemmungen, ist dabei aber ein charmanter Frauenheld und ein im Grunde liebenswerter Mensch.
Rawi Hage, der Autor dieser fesselnden Charakterstudie, ist in Beirut aufgewachsen, bevor er, so wie sein Romanheld, nach Kanada emigrierte. Er hat den libanesischen Bürgerkrieg am eigenen Leib erlebt und schildert die psychischen Traumata, welche eine derartige Vergangenheit hinterlassen kann, so echt und intim, dass der Schrecken plastisch wird.
Trotz alledem ist dieser Roman in keiner Phase deprimierend, hat sogar wirklich lustige Passagen. Die Hauptfigur ist derart abenteuerlich durchgeknallt und in ihrem Zorn und ihren ständig ausschweifenden wüsten Fantasien so interessant und authentisch, dass es eine Art schwarzes Vergnügen darstellt, die kanadische Gegenwart durch ihre Augen zu betrachten.
Kakerlake ist das beste Buch, das ich seit langem gelesen habe.

Donnerstag, 31. März 2011

Ein strohdummer Märtyrer

Wer unvorbereitet zu diesem Buch greift und den Fehler begeht, sich auf den mitreißenden Erzählfluss dieser Geschichte emotional einzulassen, wird einen brutalen Tiefschlag nach dem anderen erleben. Der Niedergang des Helden Lemuel Pitkin  wird so staubtrocken und beiläufig erzählt, dass man aus dem Staunen nicht heraus kommt. Das Buch stammt vom weithin unbekannten US-Autor und Hollywood-Lohnschreiber Nathanael West und ist im Jahr 1934, noch sehr unter dem Einfluss der großen Weltwirtschaftskrise erschienen. Nun wurde es in einer frisch bearbeiteten Übersetzung von Dieter E. Zimmer, der auch ein langes und aufschlussreiches Nachwort schrieb, neu aufgelegt.
Die tragisch komische Farce beginnt damit, dass ein Rechtsanwalt die Nachricht überbringt, dass die Hypothek auf das Haus, in dem der 17-jährige Lemuel Pitkin mit seiner Mutter wohnt, binnen zwei Monaten fällig gestellt wird. Zeit genug, um in einem so tollen Land wie den USA sein Glück zu machen, befindet Mister Whipple, der im Ort eine Bank betreibt. Lem verpfändet also die einzige Kuh - bekommt dafür von Mister Whipple lachhafte 28 Dollar und zieht voll Optimismus und Tatkraft in Richtung New York.
Am Weg zum Bahnhof rettet er die gleichaltrige Betty, in die er heimlich verschossen ist, vor einem tollwütigen Hund und einem brutalen Rüpel. Mit dem Ergebnis, dass er - als er schon gewonnen hat - überlistet und brutal bewusstlos geschlagen wird. Betty wird vergewaltigt und später von Mädchenhändlern in ein Bordell verschleppt. Lem ahnt davon nichts, zieht weiter nach New York, wird aber bereits im Zug so gründlich betrogen, dass er seine Barschaft verliert und obendrein - falsch beschuldigt - im Gefängnis landet. Dort zieht man ihm zur Begrüßung - und zur Vermeidung von Infektionen - gleich prophylaktisch alle Zähne.  Wir halten mittlerweile gerade mal auf Seite 25 des Romans und die Zähne sollten bei weitem nicht die letzten Körperteile sein, die Lem im weiteren Fortgang der Geschichte einbüßt.
West schrieb diesen Roman als eine persönliche Abrechnung mit dem Bestsellerautor Horatio Alger, der in seiner Jugendzeit in den USA millionenfach verbreitet war und in dessen Schmonzetten trotz aller Unbill des Lebens immer das Gute die Oberhand behielt. West drehte diese verlogene Botschaft radikal und konsequent ins Gegenteil. Er belässt es dabei aber nicht bei einer absurden Tragikomödie, sondern schafft beiläufig auch noch eine recht schlüssige Parabel auf die Entstehung und die Motive des Faschismus, der auf der anderen Seite des Atlantik gerade zu fataler Form aufläuft. Faschismus wird hier als eine Bewegung dumpfer ideenloser Verlierer charakterisiert, die tatsächlich erlittenes Unrecht mit brachialer Wut auf alles Fremdartige beantworten. Und wer könnte sich für so eine Bewegung besser als Märtyrer eignen, als ein Naivling wie Lem, der auf jeden erbaulichen Spruch und jede noch so hohltönende Rhetorik hereinfällt.
Ich fand das Buch kurzweilig und interessant. Auch wenn die Eindimensionalität der Charaktere manchmal recht krass wirkt, so befördert sie doch den komischen Reiz dieser wirklich außerordentlichen Erzählung, wo ein Schicksalsschlag auf den nächsten folgt.

Dienstag, 21. Dezember 2010

Zeit der Revolutionen

Kurt Andersen ist mit "Neuland" ein prächtiges Zeitmosaik gelungen, das uns über faszinierende Charaktere das Revolutionsjahr 1848 in Europa und den USA nahe bringt. Das Buch ist so spannend geschrieben, dass es trotz seiner 900 Seiten niemals eine Phase gibt, wo man es liegen lassen möchte. Im Gegenteil: die Schicksale der vier Hauptpersonen werden gekonnt verknüpft - es ist ein Vergnügen ihnen auf ihren Wegen zu folgen, auch wenn sich haarsträubende Dinge abspielen.
Andersen schafft es beeindruckend, den Zeitgeist dieser Jahre so real zu beschreiben als stecke man selbst mitten drin. Charles Darwin, Edgar Allen Poe und zahlreiche andere reale Personen treten wie selbstverständlich am Rande der Handlung auf. Darwin als furzender Gast bei einem Dinner von Benjamin Knowles geschäftstüchtigem Vater, der Benjamin den letzte Impetus gibt, seine Pläne nach Amerika auszuwandern, auch wirklich in die Tat umzusetzen. Poe als Vortragender in New York, der den Journalisten und Fotografen Timothy Skaggs mit seiner schrägen Weltsicht beeindruckt.
Doch es braucht diesen realen Aufputz gar nicht, um die Story in Gang zu halten. Dazu tragen neben Knowles und Skaggs die Geschwister Duff und Lucky Polling bei: Er ein Veteran des Mexico-Krieges, der von seinen siegreichen Truppen desertierte und zu den Gegnern überlief. Seine Schwester Polly eine Prostituierte, die von einer Karriere als Schauspielerin träumt. Ben verliebt sich bei seiner Ankunft in America in Polly und bald zieht es das ganze Quartett in den Westen - verfolgt von einem wahnsinnigen Korsen, der sich für den Sohn Napoleons hält und Ben für den Tod seines Bruders während der Revolutionstage in Paris verantwortlich macht.
Dieser Roman ist ein Meisterwerk für alle Zwecke: Er befriedigt die intellektuelle Neugier ebenso wie das Bedürfnis nach Spannung und romantischer Liebe. Und das – kunstvoll ins Deutsche übersetzt von Birgit Moosmüller - auf höchstem erzählerischen Niveau.

Donnerstag, 5. August 2010

Brauen in Zeiten des Grauens

Der dritte Teil von Günther Thömmes Bierzauberer-Trilogie beginnt in den Anfangsjahren des 30-jährigen Krieges in der Stadt Magdeburg. Hauptfigur ist der junge Braumeister Cord Heinrich Knoll, der trotz der immer schlechter werdenden Versorgungslage seinen Ehrgeiz darin legt, das beste Bier der Stadt zu brauen. Im Mai 1631 rücken die kaiserlichen Truppen auf die Hochburg des Protestantismus vor und nachdem die Hilfe der schwedischen Verbündeten aus bleibt, ereignen sich Tage des Grauens: die siegreichen Katholischen fallen über die Stadt her und beginnen eine Orgie von Morden, Vergewaltigungen und Plünderungen, die später den Ausdruck "Magdeburgisieren" prägen. Dabei verliert Knoll seine Frau und drei Töchter. Ihm gelingt über einen geheimen Stollen mit seinem Sohn Ulrich die Flucht. Unterwegs schließt sich ihm die Soldatenfrau Magdalena an, deren Mann als Söldner der Kaiserlichen auf der Gegenseite kämpfte, aber ebenfalls beim Kampf um Magdeburg starb.
Thömmes erzählt geradlinig und schwungvoll. Der lyrische Schnörksel und eine übertriebene Charakterisierung der Gedankenwelt seiner Charaktere ist seine Sache nicht. Dennoch erschafft er keine Schablonen sondern wirkliche Menschen, die sich entwickeln und auch zu überraschen vermögen. Die Handlung treibt Thömmes dabei stets flott voran, verfängt sich nicht in Nebenlinien oder allzu belehrenden Instruktionen zur Historie des Bierbrauens. Und dennoch erfährt man nebenher eine Menge über den Zeitgeist jener Epoche, die Lebensweise und die Umgangsformen. Man lernt quasi nebenher auf höchst unterhaltsame Art und Weise Geschichte.
Wie Cord und Magdalena einen Neuanfang versuchen - wie sie von elenden Kriegsflüchtlingen zu angesehenen Bürgern der traditionsreichen Bierstadt Bitburg (Thömmes Geburtsstadt) werden - und dann von feindlich gesinnten Fanatikern gnadenlos zerstört und gedemütigt werden, so dass der geradlinige Braumeister darüber sogar zum Mörder wird - all das ist hervorragend erzählt und ein wahrer Lesegenuss.
Im richtigen Leben hat Thömmes mittlerweile seine Wanderjahre aufgegeben und sich mit seiner eigenen "Bierzauberei" in Brunn am Gebirge, nahe Wien, nieder gelassen. Dort braut der Bitburger nun seine obergärigen Spezialitäten: Biere, die einen ebenso würzigen und einzigartigen Charakter haben wie seine historischen Romanhelden.

Montag, 2. August 2010

Reine Wollensstärke

Wollensstärke, das ist so eine Sache. Wenn der Tierarzt kommt, dieses Scheusal, ist es natürlich von Vorteil, wenn er weit weg ist. Oder man zumindest davonlaufen kann. Doch leider finden sie sich jedesmal wieder drin im Pferch, die ganze Schafsherde. Eingesperrt. Und der Tierarzt hat dann keine Mühe, sie zu schikanieren. Indem er sie mit Nadeln sticht, oder ihre Klauen bearbeitet - oder sonstige unangenehme Prozenduren vornimmt.
Was wäre also die Lösung? Nicht in dem Pferch gehen, beispielsweise. Widerstehen. Dazu braucht es aber gewaltige Wollensstärke. Denn wenn Rebecca die Schäferin mit dem köstlichen Kraftfutter kommt und es im Pferch ausstreut, und sich der Duft über die ganze Weide verbreitet - wer wollte da widerstehen?
Einen gibt es: Den seltsamen ungeschorenen Widder, mit seiner unglaublichen Wollensstärke. Der geht einfach nicht rein. Das wäre doch ein Vorbild? Einfach nicht reingehen, wenn Rebecca ihren Köder ausstreut,...
Man taucht in diesem wunderbaren Schafskrimi in eine vollständig kuriose Welt ein - betrachtet die Menschen aus der Schafsperspektive. Und dann wird ermittelt. Sogar mit Hilfe der Ziegen, dieser vollständig vertrottelten stinkenden Tiere, die auch noch stolz auf ihre Verrücktheit sind. Leider werden sie gebraucht, weil sie über ein toll getarntes Loch in ihrem Zaun verfügen und außerdem Französisch verstehen. Diese fürchterliche Sprache in diesem Land, in das sie leider Gottes, aus Irland kommend, geraten sind. Neben ein Schloss, das früher eine Irrenanstalt war. Mit einem Werwolf, einem Garou, der Rehe umbringt und diese zu fürchterlichen Blut-Kunstwerken im Schnee ausbreitet. Ungemütlicher hätte ihr neues Zuhause nicht ausfallen können. Und Rebecca, ihre Schäferin, die sie alle sehr mögen, kapiert leider gar nichts. Weiß nicht in welcher Gefahr sie steckt und lässt sich auch noch mit den völlig falschen Männern ein.

Man gewöhnt sich rasch an diese amüsante Bande von Ermittlern, die meist haarsträubend daneben liegen mit ihrem kriminalistischen Eifer. Doch auch das ist rasend komisch: wenn sie vollständig ohne Gewissensbisse ein Todesopfer verschwinden lassen, weil sie meinen, ihre Schäferin hätte den Mann erschossen. Oder wenn sie einem Lastauto in der Garage eine pädagogische Geschichte erzählen, in der Hoffnung, es würde endlich aufwachen und dann aus Dankbarkeit die ganze Schafsherde fort bringen aus diesem mörderischen Umfeld.

Leonie Swann bezaubert mit ihrem zweiten Schafskrimi. Sie hat das Kunststück geschafft, einen der atemberaubendsten Perspektivenwechsel der Krimiliteratur vorzunehmen und verhilft uns damit zu einem außergewöhnlichen Vergnügen.

Samstag, 15. Mai 2010

Hammer & Tickle


Ich habe soeben ein hervorragendes Geschichtsbuch über Aufstieg und Fall des Kommunismus gelesen. Das Buch ist so gut und spannend geschrieben, dass ich seine 445 Seiten in einer Geschwindigkeit verschlungen habe, wie zuletzt vielleicht "Die Verblendung" von Stieg Larssen. Im Vergleich zum düsteren Krimi des Schweden hatte das Geschichtsbuch allerdings noch einen gewaltigen Vorteil: Die Lektüre war vergnüglich, machmal rührend unterhaltsam und oft so brachial komisch, dass ich losgebrüllt habe vor lachen.
Autor des Buches ist Ben Lewis, 44, ein ehemaliger Kunstgeschichte Student aus Cambridge, der über seine Vorliebe für House-Musik und MTV zum Dokumentarfilm kam. Während der Dreharbeiten zu seinem mehrfach ausgezeichneten Film "Ceaucescu - Prunksucht eines roten Diktators" hatte Lewis das Problem, dass es sehr schwer bis fast unmöglich war, jene Dichter und Künstler, die den unfähigen Despoten einst in ihren Arbeiten verherrlicht hatten, zu einem Interview vor der Kamera zu überreden. Dafür stieß er immer wieder auf Witze aus jener Zeit und traf schließlich Doina, die eine Unzahl davon archiviert hatte. Lewis schienen die Witze "ein Gegengift" nach den unzähligen Propagandafilmen, die er gesichtet hatte - und er hörte Doina mit wachsender Faszination zu.

Doina saß in ihrer winzigen Wohnung und beschwor das alte Rumänien der achtziger Jahre für mich herauf. Sie zählte die bekannte Liste der Versorgungsmängel in den untergehenden kommunistischen Volkswirtschaften auf: Es gab kein Fleisch, kein Make-up, kein Toilettenpapier, keine Tampons, keine Heizung. Dann sagte sie: "Es gab damals den Witz: Was ist in Rumänien kälter als das kalte Wasser? Das warme Wasser." Wir lachten gemeinsam ein ganz besonderes Lachen, das Glucksen über unangenehme Wahrheiten, die allem Galgenhumor zugrunde liegt.

Für Lewis wurden die Witze zur Obsession. Und er verfiel auf jene Idee, die schließlich zum Buch wurde: Die Geschichte des Kommunismus über jene speziellen Witze zu erzählen, die nur in diesem Milieu entstehen konnte. Witze, die in unglaublicher Fruchtbarkeit überall wucherten und jede politische Entscheidung, jede Tragödie und jede Absurdität des realsozialistischen Alltags begleiteten.

Witze aus den Zwanziger Jahren beschreiben das Erstaunen der Menschen nach der Oktoberrevolution und der Umsetzung der neuen Staatsform.

Eine alte Bäuerin geht zum ersten Mal in ihrem Leben in den Moskauer Zoo und sieht dort ein Kamel. "O Gott", sagt sie, "was haben die Bolschewiken nur mit dem armen Pferd gemacht."

Eine Unzahl von Witzen widmen sich Stalins Charakter, seiner Grausamkeit und seinem eigenartigen Humor. Stalin griff selbst die Witze auf, die in der Bevölkerung über ihn kursierten. Wir lernen Stalins esoterischen Landwirtschafts-Minister Trofim Lyssenko kennen, einen ukrainischen Bauern, der mit der Behauptung Aufmerksamkeit erregt hatte, er pflanze im Winter erfolgreich Erbsen an.  Stalin imponierte das und im Volk blühten die Witze über den Größenwahn dieser revolutionären Agrar-Strategie.

Hast du schon gehört, dass Genosse Lyssenko einen Unfall hatte? Er ist beim Petersiliepflücken von der Leiter gefallen.

Sämtliche große Errungenschaften, einschließlich des Radios und der Dampfmaschine, wurden von der kommunistischen Propaganda als Werke einheimischer Genies dargestellt. Das Volk quittierte das mit Hohn.

Wer hat den Rasierapparat entdeckt? - Iwan Petrowitsch Sidorow - im Mülleimer hinter der amerikanischen Botschaft.

In der Zeit des großen Terrors wurden Millionen von Unschuldigen Opfer von Stalins Paranoia. Auch seine engen Mitarbeiter konnten von einem Tag auf den anderen vom Helden zum Konterrevolutionär abstürzen. Einer der bekanntesten führenden Kommunisten, mit dem sich Stalin mehrfach überwarf und dann wieder versöhnte, der 1937 dann aber zu langjähriger Lagerhaft verurteilt wurde, war Karl Radek.

In einem Konzentrationslager in Sibirien unterhalten sich drei Insassen darüber, warum sie da sind. Einer sagt: "Ich bin hier, weil ich behauptet habe, Karl Radek sei ein Konterrevolutionär." Der zweite sagt: "Das ist ja interessant. Ich bin hier, weil ich gesagt habe, er sei kein Konterrevolutionär." Die beiden fragen den dritten. "Und warum bist du hier?" "Ich bin Karl Radek."

Als einen der vielen Höhepunkte des Buches beschreibt Lewis eine Folge der Simpsons, wie sie aussehen würde, wenn sie im Russland der Siebziger Jahre spielen würde. Und es gelingt ihm das Kunststück, eine ganze Rahmenhandlung der "Simpsonowitschs" ausschließlich über eine Aneinanderreihung von zeitgenössischen Witzen zu erzählen. Unter anderem wurde darin Lenins These aufgegriffen, dass erst über die "Lernphase" des Sozialismus der Idealzustand des Kommunismus erreicht werden würde.

"Papa", sagt Bartski, "werden wir Wurst im Kühlschrank haben, wenn wir den Kommunismus erreicht haben?" "Ja", sagt sein Vater, "und jeder wird sein eigenes Flugzeug haben." "Warum?", fragt Bartski. "Na ja", sagt sein Vater, "stell dir vor, wir leben in Moskau und hören, dass es in Wladiwostok Wurst zu kaufen gibt. Dann können wir in unser Flugzeug steigen und hinfliegen. Dann sind wir die Ersten in der Schlange."

Der besondere Reiz an Lewis Arbeit besteht in ihrer autobiografischen Note. Immer wieder tauchen Passagen auf, in der er die Häkeleien zwischen ihm und seiner Freundin einfließen lässt. Ariane ist Malerin, in der DDR aufgewachsen und überzeugte Neo-Kommunistin. Lewis nervt sie mit seinem Faible für Ostblock-Witze und der Strenge seines Urteils über die Dummheit dieser Ideologie. Schließlich zerbricht daran auch ihre Beziehung.
Lewis ist überhaupt genial streng. Er reist durch alle Ostblock-Länder, interviewt unzählige Künstler, Satiriker, Proponenten und Gegner des untergegangenen Regimes. Doch niemand ist vor seinem beißenden Sarkasmus sicher. In wenigen Sätzen charakterisiert er seine Gesprächspartner als Säufer, Trottel oder eitle Gecken. Besonders hart ist sein Urteil über den ehemaligen Polnischen Präsidenten und Chef der Solidarnosc Lech Walesa, den er als strohdummen, von seiner eigenen historischen Bedeutung besoffenen Aparatschik darstellt. Kaum besser kommt der Ex-Staatschef der UdSSR, Michael Gorbatschov weg, der Lewis wochenlang wegen eines Termins hinhält, bis dieser schließlich auf Umwegen erfährt, dass das Interview nur von der Zahlung eines (unverschämt hohen) Honorars abhängt.

Bis zum Schluss quält sich Lewis mit seiner grundlegenden Forschungsfrage, welche Rolle nun der Witz beim Untergang des Kommunismus spielte. Er arbeitet sich daran wütend über sich selbst und viele falsche Fährten bis zur Verzweiflung ab. Sogar bei dieser zermürbenden Suche nach der Wahrheit liefert er aber ein Niveau, das großartig unterhält und den verwelkenden Witzen des untergegangenen Systems in einem Stil folgt, der seinesgleichen sucht.
Auf englisch trägt das Buch den genialen Titel "Hammer & Tickle", auf deutsch ist es kürzlich - nicht weniger treffend - als "Das komische Manifest" im Verlag Blessing erschienen.
Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, betone ich noch einmal, dass es keine unterhaltsamere Art gibt, auf hohem Niveau Geschichte zu lernen - und spreche hiermit eine strenge Kaufempfehlung aus.