Dienstag, 2. August 2011

Ghetto mit Geistern

Das Viertel um den South Presa Strip im Süden von San Antonio/Texas ist das vergammelte abgefuckte Revier der Huren, Stricher, Diebe und Säufer. Und mitten drin vegetiert Doc, ein heroinsüchtiger ehemaliger Arzt, der sich mit Abtreibungen, sowie der Versorgung von Schuss- und Stichwunden das Geld für seine täglichen Rationen verdient. Immerhin muss er nicht auf den Strich gehen oder stehlen und rauben, so wie die sonstigen Kunden des Dealers Manny, der jeden Tag verlässlich hinten auf dem Parkplatz beim Schnapsladen steht und seine Ballone vertickt.
Wenn Doc ordentlich zugedröhnt ist, erscheint ihm der Geist der früh verstorbenen Musiklegende Hank Williams, mit dem Doc früher zu Lebzeiten als dessen Leibarzt und Saufkumpan von Konzert zu Konzert gezogen ist. Nun, wo er tot ist, umlauert Hank seinen Freund missmutig und eifersüchtig und man hat den Eindruck, dass er es nicht abwarten kann, bis Doc endlich seinen rußgeschwärzten Junkie-Löffel abgibt.

Bei Steve Earle, dem großartigen Countrymusiker, der hier seinen ersten Roman vorlegt, wird dieses Ghetto rasch zum Idyll, bevölkert von Gestalten, die fast alle irgendwo einen guten Kern haben. Auch wenn sie sich mal gegenseitig mit dem Messer an die Gurgel gehen oder den Schnapsladen hochnehmen. Das ist der Suff, you know. Am nächsten Tag isses wieder gut. Und wenn nicht alles gut geht, weil der alte Besitzer des Schnapsladens den Räubern ziemlich gut hinterher geschossen hat, dann ist immer noch Doc da, der im Hinterzimmer ordiniert und tut was er eben kann.

Ihn treibt keine besondere Menschenliebe, aber er hat sich an sein Milieu und dessen Bewohner gewöhnt. Da ist Marge, seine lesbische Vermieterin in der Pension Yellow Rose, die keine Schwarzen ins Haus lässt und ständig auf ihre Freundin eifersüchtig ist. Big Manny sein mexikanischer Dealer, mit dem er nach dem Dienst in Teresas Kneipe Domino spielt. Der korrupte Cop, die süchtigen Nutten und eben Hank der Geist. Alle diese Leute haben irgendwann ein paar falsche Entscheidungen getroffen. Entscheidungen, die sie längst bereuen, aber es hilft nichts. Es führt kein Weg zurück. Wenn nicht ein Wunder geschieht.
In Steve Earles Buch hört das Wunder auf den Namen Graciela. Sie ist eine junge Mexikanerin, die bei Doc nach einer Abtreibung fast verblutet und dann "hängen bleibt". Und mit dieser zierlichen jungen Frau, die von ihrem Großvater die Gabe des Heilens geerbt hat, ändert sich alles.

Sterblichkeit, sagt Earle im Interview, sei für ihn das große Thema dieses Romans gewesen, auch dadurch beeinflusst, dass während der Schreibarbeiten sein Vater verstorben ist. Das Buch ist keine große außergewöhnliche Literatur, aber man lässt sich gerne auf diesen Erzählton ein. Und obwohl im Fortgang der Story auch noch richtige Bösewichter auftauchen und alles auf einen fulminanten Showdown zusteuert, ist der bestimmende Sound des Romans ein versöhnlicher ruhiger Bass.

Freitag, 24. Juni 2011

Die Welt aus Kakerlakensicht

Ein Buch wie dieses habe ich noch nie gelesen. Gestern spät abend habe ich es weg gelegt und ich bin noch immer platt: aufgewühlt, begeistert, verstört.
Hauptfigur und Ich-Erzähler ist ein nach Kanada emigrierter Araber. Er vegetiert mehr als er lebt, hat ständig Geldprobleme, leidet an Hunger, an Alpträumen und Depressionen. Eben hat er einen missglückten Selbstmord-Versuch hinter sich und wurde zu einer Therapie verpflichtet. Seine Besuche bei der Therapeutin Genevieve bilden den roten Faden der Erzählung. Der zweite ist seine immer drastischer werdende Identifikation mit dem Wesen und Charakter einer Kakerlake. Er provoziert seine Umgebung ständig, stielt ohne Hemmungen, ist dabei aber ein charmanter Frauenheld und ein im Grunde liebenswerter Mensch.
Rawi Hage, der Autor dieser fesselnden Charakterstudie, ist in Beirut aufgewachsen, bevor er, so wie sein Romanheld, nach Kanada emigrierte. Er hat den libanesischen Bürgerkrieg am eigenen Leib erlebt und schildert die psychischen Traumata, welche eine derartige Vergangenheit hinterlassen kann, so echt und intim, dass der Schrecken plastisch wird.
Trotz alledem ist dieser Roman in keiner Phase deprimierend, hat sogar wirklich lustige Passagen. Die Hauptfigur ist derart abenteuerlich durchgeknallt und in ihrem Zorn und ihren ständig ausschweifenden wüsten Fantasien so interessant und authentisch, dass es eine Art schwarzes Vergnügen darstellt, die kanadische Gegenwart durch ihre Augen zu betrachten.
Kakerlake ist das beste Buch, das ich seit langem gelesen habe.

Donnerstag, 31. März 2011

Ein strohdummer Märtyrer

Wer unvorbereitet zu diesem Buch greift und den Fehler begeht, sich auf den mitreißenden Erzählfluss dieser Geschichte emotional einzulassen, wird einen brutalen Tiefschlag nach dem anderen erleben. Der Niedergang des Helden Lemuel Pitkin  wird so staubtrocken und beiläufig erzählt, dass man aus dem Staunen nicht heraus kommt. Das Buch stammt vom weithin unbekannten US-Autor und Hollywood-Lohnschreiber Nathanael West und ist im Jahr 1934, noch sehr unter dem Einfluss der großen Weltwirtschaftskrise erschienen. Nun wurde es in einer frisch bearbeiteten Übersetzung von Dieter E. Zimmer, der auch ein langes und aufschlussreiches Nachwort schrieb, neu aufgelegt.
Die tragisch komische Farce beginnt damit, dass ein Rechtsanwalt die Nachricht überbringt, dass die Hypothek auf das Haus, in dem der 17-jährige Lemuel Pitkin mit seiner Mutter wohnt, binnen zwei Monaten fällig gestellt wird. Zeit genug, um in einem so tollen Land wie den USA sein Glück zu machen, befindet Mister Whipple, der im Ort eine Bank betreibt. Lem verpfändet also die einzige Kuh - bekommt dafür von Mister Whipple lachhafte 28 Dollar und zieht voll Optimismus und Tatkraft in Richtung New York.
Am Weg zum Bahnhof rettet er die gleichaltrige Betty, in die er heimlich verschossen ist, vor einem tollwütigen Hund und einem brutalen Rüpel. Mit dem Ergebnis, dass er - als er schon gewonnen hat - überlistet und brutal bewusstlos geschlagen wird. Betty wird vergewaltigt und später von Mädchenhändlern in ein Bordell verschleppt. Lem ahnt davon nichts, zieht weiter nach New York, wird aber bereits im Zug so gründlich betrogen, dass er seine Barschaft verliert und obendrein - falsch beschuldigt - im Gefängnis landet. Dort zieht man ihm zur Begrüßung - und zur Vermeidung von Infektionen - gleich prophylaktisch alle Zähne.  Wir halten mittlerweile gerade mal auf Seite 25 des Romans und die Zähne sollten bei weitem nicht die letzten Körperteile sein, die Lem im weiteren Fortgang der Geschichte einbüßt.
West schrieb diesen Roman als eine persönliche Abrechnung mit dem Bestsellerautor Horatio Alger, der in seiner Jugendzeit in den USA millionenfach verbreitet war und in dessen Schmonzetten trotz aller Unbill des Lebens immer das Gute die Oberhand behielt. West drehte diese verlogene Botschaft radikal und konsequent ins Gegenteil. Er belässt es dabei aber nicht bei einer absurden Tragikomödie, sondern schafft beiläufig auch noch eine recht schlüssige Parabel auf die Entstehung und die Motive des Faschismus, der auf der anderen Seite des Atlantik gerade zu fataler Form aufläuft. Faschismus wird hier als eine Bewegung dumpfer ideenloser Verlierer charakterisiert, die tatsächlich erlittenes Unrecht mit brachialer Wut auf alles Fremdartige beantworten. Und wer könnte sich für so eine Bewegung besser als Märtyrer eignen, als ein Naivling wie Lem, der auf jeden erbaulichen Spruch und jede noch so hohltönende Rhetorik hereinfällt.
Ich fand das Buch kurzweilig und interessant. Auch wenn die Eindimensionalität der Charaktere manchmal recht krass wirkt, so befördert sie doch den komischen Reiz dieser wirklich außerordentlichen Erzählung, wo ein Schicksalsschlag auf den nächsten folgt.