Samstag, 15. Mai 2010

Hammer & Tickle


Ich habe soeben ein hervorragendes Geschichtsbuch über Aufstieg und Fall des Kommunismus gelesen. Das Buch ist so gut und spannend geschrieben, dass ich seine 445 Seiten in einer Geschwindigkeit verschlungen habe, wie zuletzt vielleicht "Die Verblendung" von Stieg Larssen. Im Vergleich zum düsteren Krimi des Schweden hatte das Geschichtsbuch allerdings noch einen gewaltigen Vorteil: Die Lektüre war vergnüglich, machmal rührend unterhaltsam und oft so brachial komisch, dass ich losgebrüllt habe vor lachen.
Autor des Buches ist Ben Lewis, 44, ein ehemaliger Kunstgeschichte Student aus Cambridge, der über seine Vorliebe für House-Musik und MTV zum Dokumentarfilm kam. Während der Dreharbeiten zu seinem mehrfach ausgezeichneten Film "Ceaucescu - Prunksucht eines roten Diktators" hatte Lewis das Problem, dass es sehr schwer bis fast unmöglich war, jene Dichter und Künstler, die den unfähigen Despoten einst in ihren Arbeiten verherrlicht hatten, zu einem Interview vor der Kamera zu überreden. Dafür stieß er immer wieder auf Witze aus jener Zeit und traf schließlich Doina, die eine Unzahl davon archiviert hatte. Lewis schienen die Witze "ein Gegengift" nach den unzähligen Propagandafilmen, die er gesichtet hatte - und er hörte Doina mit wachsender Faszination zu.

Doina saß in ihrer winzigen Wohnung und beschwor das alte Rumänien der achtziger Jahre für mich herauf. Sie zählte die bekannte Liste der Versorgungsmängel in den untergehenden kommunistischen Volkswirtschaften auf: Es gab kein Fleisch, kein Make-up, kein Toilettenpapier, keine Tampons, keine Heizung. Dann sagte sie: "Es gab damals den Witz: Was ist in Rumänien kälter als das kalte Wasser? Das warme Wasser." Wir lachten gemeinsam ein ganz besonderes Lachen, das Glucksen über unangenehme Wahrheiten, die allem Galgenhumor zugrunde liegt.

Für Lewis wurden die Witze zur Obsession. Und er verfiel auf jene Idee, die schließlich zum Buch wurde: Die Geschichte des Kommunismus über jene speziellen Witze zu erzählen, die nur in diesem Milieu entstehen konnte. Witze, die in unglaublicher Fruchtbarkeit überall wucherten und jede politische Entscheidung, jede Tragödie und jede Absurdität des realsozialistischen Alltags begleiteten.

Witze aus den Zwanziger Jahren beschreiben das Erstaunen der Menschen nach der Oktoberrevolution und der Umsetzung der neuen Staatsform.

Eine alte Bäuerin geht zum ersten Mal in ihrem Leben in den Moskauer Zoo und sieht dort ein Kamel. "O Gott", sagt sie, "was haben die Bolschewiken nur mit dem armen Pferd gemacht."

Eine Unzahl von Witzen widmen sich Stalins Charakter, seiner Grausamkeit und seinem eigenartigen Humor. Stalin griff selbst die Witze auf, die in der Bevölkerung über ihn kursierten. Wir lernen Stalins esoterischen Landwirtschafts-Minister Trofim Lyssenko kennen, einen ukrainischen Bauern, der mit der Behauptung Aufmerksamkeit erregt hatte, er pflanze im Winter erfolgreich Erbsen an.  Stalin imponierte das und im Volk blühten die Witze über den Größenwahn dieser revolutionären Agrar-Strategie.

Hast du schon gehört, dass Genosse Lyssenko einen Unfall hatte? Er ist beim Petersiliepflücken von der Leiter gefallen.

Sämtliche große Errungenschaften, einschließlich des Radios und der Dampfmaschine, wurden von der kommunistischen Propaganda als Werke einheimischer Genies dargestellt. Das Volk quittierte das mit Hohn.

Wer hat den Rasierapparat entdeckt? - Iwan Petrowitsch Sidorow - im Mülleimer hinter der amerikanischen Botschaft.

In der Zeit des großen Terrors wurden Millionen von Unschuldigen Opfer von Stalins Paranoia. Auch seine engen Mitarbeiter konnten von einem Tag auf den anderen vom Helden zum Konterrevolutionär abstürzen. Einer der bekanntesten führenden Kommunisten, mit dem sich Stalin mehrfach überwarf und dann wieder versöhnte, der 1937 dann aber zu langjähriger Lagerhaft verurteilt wurde, war Karl Radek.

In einem Konzentrationslager in Sibirien unterhalten sich drei Insassen darüber, warum sie da sind. Einer sagt: "Ich bin hier, weil ich behauptet habe, Karl Radek sei ein Konterrevolutionär." Der zweite sagt: "Das ist ja interessant. Ich bin hier, weil ich gesagt habe, er sei kein Konterrevolutionär." Die beiden fragen den dritten. "Und warum bist du hier?" "Ich bin Karl Radek."

Als einen der vielen Höhepunkte des Buches beschreibt Lewis eine Folge der Simpsons, wie sie aussehen würde, wenn sie im Russland der Siebziger Jahre spielen würde. Und es gelingt ihm das Kunststück, eine ganze Rahmenhandlung der "Simpsonowitschs" ausschließlich über eine Aneinanderreihung von zeitgenössischen Witzen zu erzählen. Unter anderem wurde darin Lenins These aufgegriffen, dass erst über die "Lernphase" des Sozialismus der Idealzustand des Kommunismus erreicht werden würde.

"Papa", sagt Bartski, "werden wir Wurst im Kühlschrank haben, wenn wir den Kommunismus erreicht haben?" "Ja", sagt sein Vater, "und jeder wird sein eigenes Flugzeug haben." "Warum?", fragt Bartski. "Na ja", sagt sein Vater, "stell dir vor, wir leben in Moskau und hören, dass es in Wladiwostok Wurst zu kaufen gibt. Dann können wir in unser Flugzeug steigen und hinfliegen. Dann sind wir die Ersten in der Schlange."

Der besondere Reiz an Lewis Arbeit besteht in ihrer autobiografischen Note. Immer wieder tauchen Passagen auf, in der er die Häkeleien zwischen ihm und seiner Freundin einfließen lässt. Ariane ist Malerin, in der DDR aufgewachsen und überzeugte Neo-Kommunistin. Lewis nervt sie mit seinem Faible für Ostblock-Witze und der Strenge seines Urteils über die Dummheit dieser Ideologie. Schließlich zerbricht daran auch ihre Beziehung.
Lewis ist überhaupt genial streng. Er reist durch alle Ostblock-Länder, interviewt unzählige Künstler, Satiriker, Proponenten und Gegner des untergegangenen Regimes. Doch niemand ist vor seinem beißenden Sarkasmus sicher. In wenigen Sätzen charakterisiert er seine Gesprächspartner als Säufer, Trottel oder eitle Gecken. Besonders hart ist sein Urteil über den ehemaligen Polnischen Präsidenten und Chef der Solidarnosc Lech Walesa, den er als strohdummen, von seiner eigenen historischen Bedeutung besoffenen Aparatschik darstellt. Kaum besser kommt der Ex-Staatschef der UdSSR, Michael Gorbatschov weg, der Lewis wochenlang wegen eines Termins hinhält, bis dieser schließlich auf Umwegen erfährt, dass das Interview nur von der Zahlung eines (unverschämt hohen) Honorars abhängt.

Bis zum Schluss quält sich Lewis mit seiner grundlegenden Forschungsfrage, welche Rolle nun der Witz beim Untergang des Kommunismus spielte. Er arbeitet sich daran wütend über sich selbst und viele falsche Fährten bis zur Verzweiflung ab. Sogar bei dieser zermürbenden Suche nach der Wahrheit liefert er aber ein Niveau, das großartig unterhält und den verwelkenden Witzen des untergegangenen Systems in einem Stil folgt, der seinesgleichen sucht.
Auf englisch trägt das Buch den genialen Titel "Hammer & Tickle", auf deutsch ist es kürzlich - nicht weniger treffend - als "Das komische Manifest" im Verlag Blessing erschienen.
Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, betone ich noch einmal, dass es keine unterhaltsamere Art gibt, auf hohem Niveau Geschichte zu lernen - und spreche hiermit eine strenge Kaufempfehlung aus.

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